Gerade Streichen

Unter einem geraden Bogenstrich wird die Beibehaltung eines Winkels von ziemlich genau 90 Grad zwischen Bogenstange und Saite verstanden, und zwar über den gesamten Verlauf der Streichbewegung. Dieser Winkel ist essenziell für die Kontrolle der Kontaktstelle und damit des Klanges und der Dynamik (weiterlesen: ➥ Bogendruck, Bogengeschwindigkeit und Kontaktstelle: die dynamischen und klanglichen Parameter beim Streichen). Ein „schief“ gestrichener Bogen beginnt augenblicklich zu wandern oder zu rutschen.

Die häufigste Fehlbewegung: der „radiale“ Bogenstrich

Die Gelenke des Armes tendieren naturgemäß zu einer radialen Bogenführung. Dies macht sich bei so gut wie allen Anfängern beim Streichen bemerkbar. Bewegen sich Oberarm und Unterarm im Verlauf der gesamten Bogenlänge durchgehend in die gleiche Richtung, enstehen Abweichungen vom erwünschten Winkel von 90 Grad, insbesondere an Frosch und Spitze.

Hier ist eine schematische Darstellung dieser Fehlbewegung anhand meines „Bogenkasperls“ (Bogenmarionette) zu sehen, den ich für die Erklärung von Armbewegungen beim Streichen in meinem Geigenunterricht verwende:

Eine Gif-Animation, die die radiale Fehlbewegung beim Streichen illustriert.

Der korrekte, gerade Bogenstrich

Für den korrekten Bogenstrich, der sich entlang einer Geraden bewegt, ist vor allem eine Differenzierung der Oberarmbewegung mit Richtungswechsel erforderlich. Der Wendepunkt ist – abhängig von der Länge des Arms – etwa zwischen der Bogenmitte und dem Schwerpunkt des Bogens zu verorten; der Oberarm pendelt vor und zurück:

Eine Gif-Animation, welche die korrekte Bewegung beim Streichen illustriert.

Es ist lohnend, sich gleich ganz zu Beginn des Unterrichts auf die Automatisierung des geraden Bogenstrichs zu konzentrieren. Andernfalls etablieren sich Kompensationsstrategien, die es mühsam wieder abzutrainieren gilt.

Übungen für den geraden Bogenstrich

Online (etwa auf YouTube) sind eine Menge von Tutorials zu finden, die das Trainig einer geraden Bogenführung zeigen. Häufiger werden auch Übungen mit Klorolle/Papprolle bzw. anderen Hilfsmitteln gezeigt oder das Üben vor dem Spiegel angeregt – das kann für eine erste Annäherung auf jeden Fall versucht werden!

Ich probiere mit meinen Schülern im Unterricht eine Methode, die auf die Beobachtung der Kontaktstelle abzielt. Zunächst soll mit einer „Bogenslalom“-Übung ein Bewusstsein für die Effekte der unterschiedlichen Streichwinkel geschaffen werden. Der Bogen wird bei dieser Übung pro Strichrichtung jeweils zweimal zu Kontaktstellen an Griffbrett und Steg geführt (eine 4-teilige Bewegung):




Beim Aufstrich ist zu beobachten, dass – wie beim Lenken eines Fahrzeugs im Vorwärts- oder Rückwärtsgang – die Effekte entgegengesetzt sind:


Ziel der Übung ist es, Winkelkorrekturen weitgehend intuitiv vornehmen zu können – ganz ähnlich wie bei einer Fahrt auf der Autobahn die Spurhaltung auch ohne besondere Denkarbeit funktionieren sollte.

▶ Tipp: Zu Beginn der Übung ist es sinnvoll, mithilfe von großen Rückholbewegungen in der Luft einige Male die jeweils gleiche Strichrichtung und mit Stopps vor den Änderungen des Winkels zu wiederholen. Im weiteren Verlauf kann die Übung fließend, d.h. ohne Stopps, sowie im Wechsel von Ab- und Aufstrich gespielt werden.

Nachdem der Bogenslalom gut geübt wurde, kann zum eigentlichen Training der korrekten Streichbewegung übergegangen werden. Die entsprechende Übung für den geraden Bogenstrich ist denkbar simpel: Man wähle eine Kontaktstelle in der Mitte zwischen Griffbrett und Steg und verwende wenig Druck und eine sehr geringe Bogengeschwindigkeit. Die Kontaktstelle soll beobachtet und lediglich mithilfe allfälliger Korrekturen des Streichwinkels beibehalten werden.